Obdachlose

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Esther
Gelöschter Benutzer

Obdachlose

von Esther am 17.03.2009 17:30

Liebe Community,

ich hoffe, es stört euch nicht, wenn ich öfters mal einen Beitrag in literarischer Form reinstelle. Es ist eben "meine" Ausdrucksweise, mit der ich das Leben beschreibe.

Das Gedicht "la principessa unter den treppen" schrieb ich vor drei oder vier Jahren. Es basiert auf realem Geschehen in der Zeit vor 15 bis 20 Jahren in München. Ich arbeitete beim Bayerischen Rundfunk und musste täglich den kurzen Weg vom Hauptbahnhof bis dorthin zurücklegen. Auf dem Weg liegt eine Fussgängerunterführung. In dieser Fussgängerunterführung sah ich fast täglich (vorwiegend im Winter) die Frau sitzen, die ich als "principessa unter den treppen" beschreibe. Sie hat mich damals schon berührt und offensichtlich so stark, dass ich nach den vielen Jahren dieses Gedicht schrieb.
Alle Obdachlosen sind in einer menschenunwürdigen Situation. Und es gibt besondere Obdachlose, wie diese Frau, über deren Grund ihrer Obdachlosigkeit ich immer wieder mal grübelte. Sie machte den Eindruck einer hochintelligenten Frau, völlig heruntergekommen, doch in ihrer Heruntergekommenheit noch voller Eleganz und Gelassenheit - eben Grandezza. Sie war immer allein dort unten. Sie war keine, die man einfach so ansprach - und hätte ich es getan, was hätte es bewirkt? Heute weiß ich, sie suchte das gar nicht. Und trotzdem mache ich mir, wenn ich jetzt über sie spreche, immer noch Gedanken um ihr Leben und um ihren Abstieg - und darum, ob es für sie überhaupt ein Abstieg war.



la principessa unter den treppen


wenn die nächte kühler werden an der isar
findet sie zurück in ihr winter heim
einen schacht
den die menschen hinunter und hinauf be gehen
um den fahrzeugen zu ent gehen
auf dem dach des schachtes

sie hat ein bett in der mitte
die der regen nicht erreicht über die treppen
ein bett aus einem schlafsack und verschlissenen kissen
sie sitzt auf diesem bett
und wartet mit grandezza
bis der tag zu ende geht
sie ist allein
so eine kleine zarte frau
allein mit all’ der weisheit im gesicht
allein mit ihrem intellekt
allein mit ihrer grandezza

münchen du stadt der verheissungen
münchen du stadt der leicht zu erklimmenden himmels leiter
selbst in dir kann man zur principessa unter den treppen werden

ich sehe sie kommen
ich sehe sie warten
ich sehe sie gehen
zwei jahre lang schon
wir lächeln uns an
ich habe es nicht gewagt zu ihr zu sprechen
sie könnte vielleicht ein spiegel sein


ich habe respekt vor ihr
ich lächle und denke über sie nach
wie alt sie wohl sein mag
sie muss sehr schön gewesen sein
und immer schon klüger als die
die an ihr vorbeigehen und almosen spenden
die sie nicht braucht
vielleicht hat sie sich nur verschätzt in der tiefe
vielleicht hat sie es so gewollt

ich sehe ihre würde
ich sehe ihre grandezza
ich nenne sie principessa

münchen du stadt des weiss blauen glanzes
noch beschützen mich deine marien türme
doch immer mehr zieht es mich hin
zur rücken seite des lichts

es kommt noch mehr winter
den schacht durchströmt kälte
sie liegt hier zur probe
die lippen rissig
ödeme von den mundwinkeln zu den wangen hin
sie schläft sich über die zeit

ich habe überlegt, ob ich sie frage
mit mir zu sein am abend der geweihten nacht
deren festlichkeit ich so gerne allein zelebriere
ich habe überlegt, ob ich sie frage
ob ich es wage
sie zu dulden mit läusen und flöhen
auf meinen weissen kissen


ich habe nicht gefragt
doch es war nicht darum
ich habe nicht gewagt zu erfahren
was mir so fremd
gar nicht erscheint
was immer da war
als möglichkeit in meinem leben


ich habe gelächelt
doch die traurigkeit zog als schwert in meine mitte ein
und durchtrennte meine hälften
als ich wieder zur arbeit ging
durch die fussgängerunterführung hinter dem bahnhof
ich habe nie erfahren
ob sie gefunden hat
was sie suchte


was hat sie nur berührt in mir
la principessa unter den treppen
dass ich sie nach all’ den jahren
wie eine vertraute in mir trage



c esther hebein. nomaden / Lyrik

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Kirsten

59, Weiblich

Beiträge: 54

Re: Obdachlose

von Kirsten am 20.03.2009 10:23

Hallöchen :)

Ich will nur eben sagen: Ich denke oft an deine Geschichte. Vorgestern Nacht hatte ich Dienst im Beratungscontainer auf dem Straßenstrich. Da saß ich mitten unter etwa 20 Frauen vom Strich, von 18 bis 60 Jahre alt, und hatte immer im Kopf: "Lauter kleine Grandezzas" ...
Ich weiß gar nicht, was genau Grandezza bedeutet. Aber als eine Frau im fleckig-speckigen Grobstrickpulli mit einer Jeans, deren Ursprungsfarbe nur noch zu erahnen ist, mit ungepflegten Haaren und pechschwarzen Fingernägeln, von der ich weiß, dass sie alle denkbarenb sexuellen Dienstleistungen ohne Kondom anbietet..... mir einen Löffel mit spitzen Fingern reichte, weil trotz Spülmaschine ein Fleckchen daran haftete.... mit einem leisen Kopfschütteln, angeekeltem Gesicht und der Aussage: "Ts,ts,ts"..... da ahnte ich, was es bedeuten könnte.

Lauter kleine, verwunschene, liebenswerte Prinzessinnen. Man muss nur genau hinsehen....

Lieben Gruß

Kirsten

Doch wenn ich vor der Dummheit die Augen verschlösse, wäre ich mit dafür verantwortlich, dass sie ins Kraut schießt.
Die wuchert nämlich schon beim Hingucken, aber was glaubt Ihr, wie die wuchert, wenn Ihr wegguckt
(Hermann Prignitzer)

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