Offener Brief an eine, die meint, über ihren Bruder "spricht man nicht"

[ Nach unten  |  Zum letzten Beitrag  |  Thema abonnieren  |  Neueste Beiträge zuerst ]


Kirsten

59, Weiblich

Beiträge: 54

Offener Brief an eine, die meint, über ihren Bruder "spricht man nicht"

von Kirsten am 19.02.2009 11:16

Vorwort:
Nein, so richtig passt dieser Brief hier nicht rein. Göttin-sei-Dank bin ich mir bewusst, dass Menschen wie die hier gemeinte Dame sehr selten sind. Von daher also nicht unter "Man" zu fassen. "Man" spricht schon über ne ganze Menge mehr als diese Lady... aber ich will diesen Brief loswerden... also leg ich ihn hier ab ;) Vielleicht mag ja jemand was dazu schreiben...und wenn nicht, ists auch egal... ich bin ihn erst mal los ;)

Offener Brief an meine unbekannte Schwägerin

Es ist wirklich nicht leicht, mich so richtig böse werden zu lassen. Alle, die mich kennen, werden das bestätigen. Aber du hast es geschafft. Ich bin wirklich ernsthaft böse.

Seit etwa 5 Jahren hältst du unregelmäßigen Mailkontakt mit deinem Bruder. Einmal habt ihr Euch sogar getroffen. Das hat dich viel Überwindung gekostet und deine Familie darf nichts davon erfahren. Weil dein Bruder deine Schwester war und du nicht weißt, wie du deinen Kindern diese Ungeheuerlichkeit erklären kannst. Du befürchtest, deine Kinder könnten Schaden nehmen angesichts dieser Information.
Das könnte ich gut verstehen… wenn dein Bruder ein Mörder wäre, ein Kinderschänder, ein Monster irgendeiner Art… aber er ist einfach nur ein Transmann. Nichts Besonderes eigentlich. Tante Anke ist jetzt Onkel Arne und das seit über 10 Jahren, na und? Transidentität ist ein Teil dieser Realität. Du wirst deine Kinder nicht ewig unter der Dunstglocke deiner ganz persönlichen Wirklichkeit halten können.
Das alleine zeichnet dich für mich aber nur als nicht besonders klug aus. Ist ja nichts Schlimmes. Dumme Menschen muss es schließlich auch geben und die Familie sucht man sich nun mal nicht aus. Macht nix…
Aber das, was mich wirklich wütend macht, ist die Tatsache, dass du seit Jahren immer wieder den Kontakt per Mail und Telefon suchst. Jeder Mensch mit 5% Empfindungsfähigkeit weiß, dass das jedes mal Hoffnung wecken muss in deinem Bruder, dass es doch bald zu einem normalen zwischenmenschlichen Kontakt kommen könnte. Du weißt genug über ihn um dir dessen bewusst zu sein, dass er unendlich leidet unter der Kontaktsperre zu seiner Ursprungsfamilie. Ihr habt ihn alle ausgeschlossen, aus eurem Leben geworfen, den Kontakt abgeschnitten. Der Beerdigungstermin seines Bruders habt ihr ihm verheimlicht, aus Angst, er könnte zur Beerdigung auftauchen, vom Tod seiner Mutter erfuhr er erst Monate später… usw… Und jede Mail, jeder Anruf von Dir, du blöde Schnalle, ließ seine Hoffnung aufbrennen und seine letzten Kräfte aktivieren, NOCH geduldiger zu sein, NOCH länger abzuwarten, NOCH mehr zu leiden…. Und so machst du das jetzt seit Jahren….
Jetzt ist echt mal langsam gut. Schweren Herzens habe ich dazu eingewilligt, dass du zu unserer kirchlichen Trauung im Mai diesen Jahres eingeladen wirst. Ich hätts wohl geschafft, dir nicht ins Gesicht zu springen, dich nicht zu verprügeln oder öffentlich bloß zu stellen, auch wenn mir sehr danach gewesen wäre. Ich hätte dir verziehen. Tatsächlich. Ich hätte dir ne Chance gegeben.
Und du wagst es nun, mit der haarsträubenden Ausrede, so was „Schnulziges“ sei nichts für dich, diese Einladung abzuschlagen? „Schnulzig“? Unsere Trauung „schnulzig“? Das sagt ne Tusse, deren fast erwachsene Kinder nichts von Transidentität wissen und denen deshalb der Kontakt zu ihrem Onkel verwehrt wird? Das klingt echt schnulzig, du Hase, wie aus einem amerikanischen Spielfilm aus den 50ern. Neee, was Schnulzigkeit betrifft, bist du uns weit voraus.
Ich kann mich nicht erinnern, in meinem Leben schon einmal einem Menschen gegenüber so viel Verachtung empfunden zu haben. Dabei hab ich dich noch nie gesehen. Arne und ich sind seit über 6 Jahren zusammen und ich habe noch kein einziges Mitglied dieser Familie gesehen. Wer weiß wozu es gut ist…
10 Jahre reichen nicht aus, dass du dich mit dem Thema Transidentität deines Bruders anfreundest und deine Kinder entsprechend aufklärst? Wie lange soll es denn wohl dauern?
Wir haben einige wirklich coole Freunde und wir brauchen dich nicht. Es wäre deine Chance gewesen, eine ziemlich klasse Truppe kennenzulernen, nämlich uns. Chance vertan...
So, du emotionaler Schwachmat, ich dreh den Spieß jetzt um. Ich schütze jetzt meine Familie vor der ungeheuerlichen, traumatisierenden Erkenntnis, dass es Menschen wie Dich gibt und untersage jeglichen Kontakt zu dir.
Deinen Kinder wünsche ich von Herzen die Erkenntnis, dass das Leben wundervoll bunt und vielseitig ist und nicht nur so schwarz-weiß, wie es die Mama gerne malt.
Deine Schwägerin

Doch wenn ich vor der Dummheit die Augen verschlösse, wäre ich mit dafür verantwortlich, dass sie ins Kraut schießt.
Die wuchert nämlich schon beim Hingucken, aber was glaubt Ihr, wie die wuchert, wenn Ihr wegguckt
(Hermann Prignitzer)

Antworten

Bettina

64, Weiblich

Beiträge: 23

Re: Offener Brief an eine, die meint, über ihren Bruder "spricht man nicht"

von Bettina am 21.02.2009 15:54

Liebe Kirsten, Du bist ein sehr emotionaler Mensch, das springt mir aus den Zeilen Deines offenen Briefes förmlich entgegen. Und ich kann Deine Emotionen sehr gut verstehen, uneingeschränkt. In einem Punkt sage ich trotzdem Vorsicht: Du kannst Deinen Mann nicht schützen, indem Du ihm den Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie untersagst. Hier hilft glaube ich nur, dass er selbst zu der (gewiss schmerzlichen) Erkenntnis kommt: ich will dieser Schwester / dieser Familie, die mich so wie ich bin nicht akzeptiert, nicht mehr hinterherrennen, Schluss. Aber das kann nur aus dem tiefsten Inneren Deines Mannes selbst kommen, alles andere erzeugt nur neue Konflikte denke ich.
Herzliche Grüße, Dir und Deinem Mann von Bettina (selbst familiengeschädigt).

Antworten

Kirsten

59, Weiblich

Beiträge: 54

Re: Offener Brief an eine, die meint, über ihren Bruder "spricht man nicht"

von Kirsten am 21.02.2009 16:25

Hallo Bettina :)

Danke für deine Zeilen :)

Das mit dem Kontaktverbot ist auch ne Mischung aus "nur rhetorisch gemeint" und "mit den gleichen Waffen zurückschlagen ..." , nicht wirklich realer Ernst. Es ist vor allem mal ordentlich zurückschlagen, beziehungsweise Dampf ablassen. Diesen Brief hab ich nämlich nicht abgeschickt. Und zwar deshalb nicht, weil ich mich nicht einmische. Immer noch nicht. Natürlich überlasse ich es - schweren Herzens- meinem Mann, ob er Kontakt zu dieser Frau hat oder nicht. Ich sage ihm zwar meine Meinung, aber ich halte mich zurück und bemühe mich, ihn seine eigene Entscheidung treffen zu lassen.
Und genau dafür musste ich diesen Brief schreiben und irgendwo "veröffentlichen"... um Dampf abzulassen. Leise vor mich hin schimpfen hat nämlich nicht mehr gereicht ;)

Lieben Gruß

Kirsten

Doch wenn ich vor der Dummheit die Augen verschlösse, wäre ich mit dafür verantwortlich, dass sie ins Kraut schießt.
Die wuchert nämlich schon beim Hingucken, aber was glaubt Ihr, wie die wuchert, wenn Ihr wegguckt
(Hermann Prignitzer)

Antworten

Herbstfrau
Gelöschter Benutzer

Re: Offener Brief an eine, die meint, über ihren Bruder "spricht man nicht"

von Herbstfrau am 22.02.2009 21:23

Liebe Kirsten, beim Lesen deines Briefes kamen mir folgende Gedanken:
Briefe schreiben hilft, und Schreiben hlft sowieso. Ich bezeichne Schreiben -zumindest für mich- als Therapie.
Während des Niederschreibens werden die Gedanken klarer, ja, man bekommt neue Einsichten, gewinnt Abstand usw.
ich glaube, dir ging oder geht es ebenso. Du wirst deinem Arne bestimmt helfen, dieses Familienproblem zu "lösen", so oder so.

Ich hatte in der Klinik die Aufgabe, meinem Mann einen Brief zu schreiben, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Das fiel mir unendlich schwer.Aber es erleichterte.
Ich schrieb einen Brief an meinen Tinnitus. Ich zerlegte die einzelnen Buchstaben des Wortes und bildete damit neue, aufbauende Wortgruppen. Und ich schrieb einen Brief an meine Mutter. Eine Briefmarke benötigte ich in keinem Fall. Vielleicht veröffentliche ich den Brief an meine Mutter hier , im geschützten Raum.So wie du es mit deinem gemacht hast.
Liebe Kirsten, ich bewundere dich. Schön, dass es solche Frauen wie dich gibt. Powerfrauen..

Was mir grad noch einfällt, nachdem ich das Thema dieses Threads noch einmal las- meinem allerersten Buch-es war eher ein Büchlein-180 Seiten-- gab ich den Titel "Darüber schreibt man nicht".;-)

Liebe Grüße,auch an Bettina, die dir wunderbar einfühlsam geantwortet hat.

Antworten

Prignitzer43
Administrator

80, Männlich

Beiträge: 35

Re: Offener Brief an eine, die meint, über ihren Bruder "spricht man nicht"

von Prignitzer43 am 08.03.2009 03:31

"Eigentlich" müsste ich zu dem Problem "Arne und seine Schwester" ja vielleicht gar nix mehr anmerken, Arne kennt meine Meinung dazu; ich hab' sie bereits vor einiger Zeit in einem Brief (per Mail) an ihn kundgetan. Aber ich denke, es ist wohl doch ein grundsätzliches Problem, das über das spezielle, das Arne damit hat, weit hinausgeht. Es ist das Problem "Ursprungsfamilie" an sich. Es ist die Frage: Was hat die Familie, aus der ich stamme, für mich für einen Wert, dass ich auf sie wert lege? Warum kommt es uns, wenn es da an zwischenmenschlicher Wärme fehlt oder gar an Akzeptanz, wie in Arnes Falle, schier wie eine Tragödie vor? Aus welchem Grunde ist es einem erwachsenen Menschen wichtiger, was Mutter, Vater, Brüder, Schwestern, Neffen und Nichten etc. von ihm denken, als das, was Nachbar X oder Nachbarin Y von ihm halten? Und im Problemfall: Warum kann ein erwachsenener Mensch mit halbwegs kräftig ausgebildetem Selbstwertgefühl zu jemandem, mit dem er nicht verwandt ist, relativ leicht sagen: "Wenn du mich nicht stehen lässt, wie ich bin und sein möchte/muss, obwohl ich dir damit nicht schade, dann leck mich am Arsch!"... und warum ist es für selbigen Mensch, der einem Nicht-Verwandten mehr oder weniger leicht die kalte Schulter zeigen kann, nahezu ein Unglück oder überhaupt ein Unglück, wenn ihn Familienangehörige nicht akzeptieren? Die Mutter nicht, der Vater nicht, die Geschwister nicht? Vielleicht selbst die eigenen erwachsenen Kinder nicht; auch so was soll es ja geben. Aber bleiben wir mal bei der Ursprungsfamilie. Was hat die, wenn ich auf eigenen Füßen stehe, also von ihr nicht mehr abhängig bin, denn noch für eine Bedeutung, wenn ich ihr nix bedeute? Warum muss ich da um gut Wetter bitten, um ihr Wohlwollen buhlen, um mein Angenommenwerden ringen, um ihr Verständnis nachsuchen?

Meine Meinung: Verwandte haben allein dadurch, dass ich in ihre Familie hineingeboren wurde, für mich keinen Wert, seitdem ich erwachsenen bin und also von ihnen unabhängig, es sei denn, sie erweisen sich für mich als von Wert. Nämlich von folgendem: Sie erweisen mir die Menschlichkeit, mich anzuerkennen als einen Menschen, der selbstbestimmt durchs Leben geht, und nichts darauf hindeutet, dass ich dadurch jemandem schade. Und die Verwandten, denen diese Menschlichkeit abgeht, die sind nicht mit mir verwandt, denn sie machen mein Leben in keiner Weise reicher, also wäre ich schier hirnrissig, scherte ich mich um sie. Alles andere ist letztlich Sentimentalität. Wenn mensch erwachsenen ist, sollte mensch einzig auf Wahlverwandtschaft aus sein. Dazu können auch Mutter und Vater zählen, Brüder und Schwestern, na sicher, jeder Mensch mir recht, wenn er mir menschlich begegnet, aber wählt er mich statddessen ab, gut, dann wird er unter " mir nicht mehr nötig" abgelegt.

Übrigens ist mir, tat ich irgendwo diese meine Meinung kund, schon oft widersprochen worden, nur leider ohne jegliches Argument. Niemand hat mir bisher erklären können, warum ihm oder ihr Mutter oder Vater oder Bruder oder Schwester ein Wert an sich sind. Unabhängig davon, ob sich die Mutter mütterlich, der Vater väterlich, der Bruder brüderlich, die Schwester schwesterlich zu ihm oder ihr verhalten. - Wer hat uns denn so was eingetrichtert, dass wir an wem leiden, der sich nicht als würdig erweist, uns ein Verwandter zu sein? Gehen wir lieber in die Welt und schauen uns um, wer tatsächlich mit uns verwandt ist. Müssen keine Massen sein. Wer ist schon so weitherzig, ganze Massen ins Herz schließen zu können? Ich jedenfalls nicht.

Antworten

« zurück zum Forum