Das Bereitsein zur Toleranz - erlernbar? lehrbar?

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Prignitzer43
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Das Bereitsein zur Toleranz - erlernbar? lehrbar?

von Prignitzer43 am 14.06.2009 03:30

Das Bereitsein zur Toleranz – erlernbar? lehrbar?

Oder

Wem’s nicht gegeben ist, dem ist nicht beizukommen?



Tja, zuweilen bin ich, geht’s um das Bereitsein eines Menschen zur Toleranz, ratlos.

Ein paar Gedanken nach nicht wenigen Erfahrungen in nicht gerade wenigen sehr bewusst durchwanderten Lebensjahren:

Es gibt massenhaft Menschen, die sind partout nicht tolerant. Kann ich machen was ich will, die sind zur Toleranz nicht bereit. Oder nicht fähig?
Wie also steht es mit dem Bereitsein zur Toleranz? Ist es dem einen Menschen gegeben, und dem anderen ist es womöglich nicht gegeben? – Mitunter habe ich den Eindruck: Einem intoleranten Menschen ist nicht beizukommen. Oder in Abwandlung eines Goethe-Worts: Dieser oder jener Mensch fühlt ihn nicht, den Willen zur Toleranz, also wird er ihn nicht erjagen.

Intoleranz ist ja mehrheitlich, wenn nicht gar immer irrational. Der Intolerante behauptet etwas. Gründe für seine Behauptung nennt er in aller Regel nicht; und nennt er welche, sind sie meist leicht zu entkräften, und dann sagt der Intolerante (habe dies oft erlebt): „Ja, ja, aber trotzdem...“, weil in diesem betreffenden Menschen eine Sperre nicht aufgeht. Kann ihm einer sagen, was er will; kann er hören, was auch immer... ihm geht kein Licht auf.- Toleranzvermögen davon abhängig, was ein Mensch von Geburt an solchem Vermögen mitgekriegt hat? Also: Der eine Mensch ist halt so, der andere halt so beschaffen, was sein Vermögen angeht, tolerant zu sein? – Kein angenehmer Gedanke, aber womöglich die Erklärung, dass es bezüglich so manchen Appells zur Toleranz aus dem sprichwörtlichen Wald nicht herausschallt, wie man in denselben hineingerufen hat.

Dazu ganz was Persönliches: Oft wird behauptet, dass eines Menschen Fähigkeit zur Toleranz halt davon abhinge, wie der betreffende Mensch wo aufgewachsen ist. Das Milieu mache es, was in Sachen Tolerantsein-Können aus jemandem wird. – Ich sage, das kann sein, aber eine Gesetzmäßigkeit obliegt dem nicht, denn obläge dem eine Gesetzmäßigkeit, säße ich jetzt nicht am Laptop und schriebe diesen Beitrag. Mein familiäres Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, habe ich literarisch in dem Monolog einer Mutter, den ich mit LAMENTO überschrieb, geradezu akribisch dokumentiert. (Yasni-Mitglieder, die mein Yasni-Profil angeschaut haben, kennen ihn vermutlich; wer ihn nicht kennt, hier ist er nachzulesen: http://www.hermann-w-prignitzer.de/Lamento.pdf) - Ich müsste, wenn es um Toleranz geht, der Intolerantesten einer sein. Womit ich jetzt nicht sagen will, wunder wie tolerant bin, aber würde ich mich nicht wenigstens um Toleranz bemühen, gäbe es weder diesen Beitrag, noch diese Community insgesamt, und meine Herkunftsfamilie, lebte davon noch wer, die würde mich allein schon dieser Community-Gründung wegen für „abartig“ halten und deshalb in der Öffentlichkeit verleugnen. – Keine Übertreibung! Und wenn man zu dem Milieu, von dem jemand angeblich geprägt wird, auch das gesellschaftliche Umfeld (Nachbarn, Schule, Staat) hinzurechnet, dann wäre einer wie ich, der in den 50er Jahren in der DDR aufgewachsen ist, vielmals entschuldigt, wäre er intolerant. Intoleranz war der DDR staatserhaltendes Prinzip, und das übrigens nicht nur in ihrem ersten Jahrzehnt, auch noch im letzten, dem vierten.

Zurück zu meiner Ausgangsfrage: Hat halt der eine Mensch die Toleranzbereitschaft, das Toleranzvermögen, das Tolerantsein-Können in sich, und ein anderer hat so was halt nicht in sich, der fühlt es nicht, also keine Aussicht, dass er es erjagt? – Ich schreib’ es hier unumwunden hin: Mitunter beschleicht mich der Verdacht, in vielen Menschen ist der Acker, in dem man das Samenkorn Toleranzfähigkeit legen könnte, nicht nur zubetoniert, sondern: der Acker ist ihnen von Geburt nicht zuteil geworden. Die können diesbezüglich nichts lernen, die kann man diesbezüglich nichts lehren.

Alles Fragen. Und die stelle ich hier, weil ich mitunter arg, arg ratlos bin.


Antworten Zuletzt bearbeitet am 14.06.2009 04:11.

SigridEbert

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Re: Das Bereitsein zur Toleranz - erlernbar? lehrbar?

von SigridEbert am 17.06.2009 01:17

Lieber Hermann,

ja, alles Fragen - und wichtige dazu - und nicht so im Vorbeigehen zu beantworten!

Deine Fragen haben es wirklich in sich, berühren sie doch einen tiefen Kern im Menschen.

Doch um das näher zu begründen sollte ich mal vorne anfangen und deine Fragen aufgreifen.


"Wie also steht es mit dem Bereitsein zur Toleranz?"

Das Bereitsein zur Toleranz bedarf einer gewissen Reife, die ich brauche um dazu fähig zu sein. Denn Toleranz entsteht durch die Fähigkeit mich in Frage stellen zu können, mich außerhalb der vielleicht allgemein herrschenden Meinung zu stellen; entsteht durch die Überwindung meiner Angst, die Anerkennung durch andere zu verlieren, durch die Überwindung meiner Angst ausgegrenzt zu werden.

Ich könnte zum Beispiel von mir behaupten tolerant zu sein, doch wenn ich genauer hinschauen würde, sähe ich, dass es eine Toleranz wäre, die nur so weit ginge wie sie sich im allgemeinen Umfeld einer etablierten Toleranz bewegte. Also "Viele" diese Toleranz verträten und somit gesichert wäre, dass ich mich nicht plötzlich außerhalb der Gemeinschaft bewegte, nicht die Anerkennung der Gruppe verlöre, oder es gerade schick wäre, diese Toleranz zu vertreten.

Also es gibt die Pseudo-Toleranz und die Intoleranz.

Das ist es, was uns da draußen wirklich täglich begegnet. Sicher keine beruhigende Erkenntnis.

Fragt sich, warum das so ist.

Was ist der Kern meiner Angst ausgegrenzt zu werden, Anerkennung zu verlieren, nicht die allgemein herrschende Meinung zu vertreten?

Es ist die Angst aus der Gemeinschaft raus zufallen.

Es ist die Angst allein zu sein.

Und was bedeutet das im Kern?

Ich habe Angst nicht geliebt zu werden!

Das tiefste Bedürfnis eines jeden Menschen ist es geliebt zu werden!

Doch dessen muss ich mir erst mal bewusst sein, um dieses Bedürfnis opfern zu können - denn dass muss ich, wenn ich wirklich tolerant sein will.

Ich muss mich selbst überwinden.

"Hat halt der eine Mensch die Toleranzbereitschaft, das Toleranzvermögen, das Tolerantsein-Können in sich, und ein anderer hat so was halt nicht in sich, der fühlt es nicht, also keine Aussicht, dass er es erjagt?"

Ja Hermann, hat der Mensch das Vermögen oder hat er nicht?

Ich denke er hat - doch nicht ohne die Bewusstheit sich selbst zu erkennen und nicht ohne die Reife sich selbst zu überwinden.

Und lieber Hermann, solche Menschen gibt es noch nicht genug auf diesem Planeten, um dir deinen Seelenfrieden geben zu können.

Aber wir Wenige können den Vielen mit unserer Toleranz begegnen und ihnen vorleben, dass unsere Toleranz uns nicht umbringt – jedenfalls nicht in unseren Landen – wir machen uns allenfalls un(b)geliebt.


Antworten Zuletzt bearbeitet am 17.06.2009 09:13.

Prignitzer43
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Beiträge: 35

Re: Das Bereitsein zur Toleranz - erlernbar? lehrbar?

von Prignitzer43 am 04.07.2009 03:10

Liebe Sigrid, Deinen Beitrag zu diesem Thema gerade nochmals gelesen. Deine Überlegungen wie Deine Schlussfolgerungen sind prächtig, aber: Du sprichst ja bereits als jemand, der sich bewusst ist, dass er hier und da nicht tolerant ist, jedenfalls nicht in aller Öffentlichkeit, weil... weil... weil...

Will sagen: Dir ist ja bereits bewusst:

„Toleranz entsteht durch die Fähigkeit mich in Frage stellen zu können, mich außerhalb der vielleicht allgemein herrschenden Meinung zu stellen; entsteht durch die Überwindung meiner Angst, die Anerkennung durch andere zu verlieren, durch die Überwindung meiner Angst ausgegrenzt zu werden.“


Will sagen, Du kennst die Gründe der Grenzen Deiner etwaigen Nicht(öffentlichen)-Toleranz. Was ja nicht gleich Intoleranz ist, sondern mehr ein Wegschauen, statt Hinschauen, mehr ein „Lieber-nicht-Farbe-Bekennen“, wogegen Intoleranz ja ein (oft sogar lautstark-aggressives) Ablehnen ist, ein (einem Todesurteil nahezu vergleichbares) Verurteilen.

Will sagen: Du sprichst lediglich von jemandem, der sich nicht traut, in der Öffentlichkeit Toleranz anzumahnen, obwohl er weiß oder zumindest ahnt, dass Toleranz am Platze wäre.. Du sprichst lediglich von jemandem, der konfliktscheu ist, weil Konflikte auszutragen gesellschaftlichen Liebesentzug bedeuten könnte:
„Ich habe Angst nicht geliebt zu werden! Das tiefste Bedürfnis eines jeden Menschen ist es geliebt zu werden!“


Will sagen: Der Mensch, von dem Du da sprichst, muss nur lernen (so schwer das auch sein mag), dass zwar das Bedürfnis legitim ist, geliebt zu werden, nur ist jenes Bedürfnis, geliebt zu werden, sozusagen „vom Teufel“, wenn es so weit geht, dass man von all und jedem/jeder geliebt werden möchte. – Beliebt sein wollen rundum, bringt einen letztlich um. Man geht seiner Persönlichkeit verlustig, man wird zur verwechselbaren, zu austauschbaren Person.

Ach Gott, Sigrid, wie weit wären wir in „Sachen“ Toleranz, wenn Menschheit mehrheitlich schon so weit wäre, sich mit den Gedanken rumzuschlagen, die Du in Deinem Beitrag benannt hast. Denn vor solchen Menschen, die um die Gründe ihrer Nicht-Toleranz wissen, ist mir nicht bange. Mit denen kann man reden. Und solange man miteinander redet, ist Mord und Totschlag gebannt.

Aber ich habe bei meinen Fragen (Toleranz erlernbar, lehrbar) leider an jene Zeitgenossen und -genossinnen denken müssen, die, sind sie intolerant, von keiner Überlegung angekränkelt sind und damit ihre intolerante Position (als wäre es das Natürlichste von der Welt) zum Maß aller Dinge machen.

Beispiel: Wenn meine um die 80jährige Tante Ortrud aus Heilbronn am Neckar bizarr gekleidete Jugendliche am Fußwegrand sitzen sah, sagte sie, als müsste es klar sein, dass das alle Welt so sähe: „Also da kann man ja nun sagen, was man will, so was hat es bei Adolf nicht geben.“ Oder: Wenn ebendiese Tante vier Bananen kaufen wollte, und ich sagte: „Da drüben, siehst’ es, da gibt’s welche, da am Gemüsestand“, dann sagte Tante Ortrud: „Da drüben, da beim Türken? Na so weit kommt’s noch. Vielleicht mach’ ich die noch reich.“ Oder: Ich mich bei Tante Ortrud nicht als schwul geoutet, ich aber irgendwie im Gespräch das Wort Homosexualität in den Mund genommen, schnappte meine Tante Ortrud nach Luft, lief feuerrot hat und japste: „Also weißt du, das muss ich dir mal sagen... also vor diesen SCHWULEN und diesen... diesen.. [sie fand das Wort nicht]... diesen... diesen [jetzt!] L-LESBEN... also ich sag Dir was: Vor denen ekel ich mich!“

Tja, und diese meine Tante Ortrud, in diesem Jahr wird sie 90... also solche Menschen, die gibt’s, so meine Erfahrung, flächendeckend allüberall, mal 80 Jahre alt, mal auch erst 18 Jahre jung. Und mit denen geredet, ist in den Wind geredet. Die kann man sich, auch das leider Gottes meine Erfahrung, nur vom Leibe halten, wie ich mir jene Tante Ortrud seit Jahren vom Leibe halte.

Und nun nochmals die Frage: Toleranz erlernbar, lehrbar? Oder anders gefragt: Gibt es, um eine Formulierung meines Freundes David Warschauer aufzugreifen, tatsächlich >Grenzen der Aufklärung<? Und wenn ja, wie geht man damit um?
Probleme schafft man ja nicht aus der Welt, indem man ihnen den Rücken kehrt, wie ich meiner o.g. Tante den Rücken gekehrt habe. Oder doch? Oder wie?

Alles nur Fragen.

(3:14h. Zum Noch-mal-Durchlesen keine Kraft mehr. Ich hoffe, irgendwelche Tippfehler beschädigen die Verständlichkeit nicht. Wenn ja, nachfragen.)

Antworten Zuletzt bearbeitet am 04.07.2009 03:17.

SigridEbert

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Re: Das Bereitsein zur Toleranz - erlernbar? lehrbar?

von SigridEbert am 13.07.2009 02:22

Lieber Hermann,

wie ich bereits in meiner ersten Antwort anführte sind deine Fragen sehr komplex und nicht mal eben so im Vorbeigehen zu beantworten. Sie sind auf vielen Ebenen zu sehen und zu beleuchten und daraus einen Konsens zu entwickeln ist äußerst schwierig.

Zunächst möchte ich den Dalai Lama zitieren, der in einer öffentlichen Rede "Liebe und Mitgefühl – die Fundamente für Toleranz" unter anderem folgendes sagte:

"Die inneren Eigenschaften wie Mitgefühl und Zuneigung bewirken Glück, und diese Tugenden sind es auch, die Toleranz hervorbringen. Wenn man Toleranz nur als eine moralische Pflicht versteht, mag das in gewisser Weise einen Nutzen haben, aber daraus entwickelt sich kaum eine dauerhafte, stabile Toleranz anderen Wesen gegenüber.

Wenn man dagegen erkennt, dass der andere genau wie ich selbst Glück erlangen und Leid vermeiden möchte, und wenn man einsieht, dass er genauso wie ich selbst das Recht hat, dieses Glück zu erstreben und Leid von sich zu weisen, dann entsteht echte, tiefe Achtung vor dem anderen. Auf diesem Fundament können Geduld und Toleranz entstehen und die Erkenntnis, dass es unangemessen ist, den anderen zu schädigen.

... Wir müssen uns die Vorteile von Liebe und Mitgefühl vor Augen führen. ... sie verbessern unserer Beziehung zu anderen – in der Familie und in der Gesellschaft überhaupt. ... Sie entwickelt die innere Stärke ... die dann Toleranz und Geduld mit sich bringt.

... Es ist wichtig, dass wir unser Wissen und unsere Fähigkeiten vermehren. Gleichzeitig ist es aber notwendig, dass wir Tugenden schulen, die unserem Denken und Handeln zugrunde liegen. Wenn einem Menschen, der viel weiß und viele Fähigkeiten hat, eine aufrichtige Motivation fehlt, diese Potentiale zum Wohle der Menschen einzusetzen, kann sich sein Wissen negativ auswirken und viel Leid erzeugen.

... Früher war die Instanz, die hauptsächlich vermittelt hat, wie Toleranz, Altruismus usw. zu schulen sind, die Religion. In der heutigen Zeit wird die Religion immer mehr zurückgedrängt, ihre Rolle in der Gesellschaft wird schwächer. Was bleibt, ist die Seite des Wissens und der Fähigkeiten; es ist keine Instanz da, die anstelle der Religion die Verantwortung dafür übernimmt, die Tugenden zu vermitteln und zu fördern.

Deshalb möchte ich all diejenigen, die irgendwie am Erziehungssystem mitarbeiten, bitten, sich auf diesem Gebiet zu engagieren."

Nach einer mündlichen Übersetzung aus dem Tibetischen von Gelong Dschampa Gyatso (Christof Spitz), überarbeitet von Birgit Stratmann. Copyright S.H. Dalai Lama, Erschienen in „Tibet und Buddhismus“, Heft 30, 1994


Hier denke ich, kommen weitere Aspekte zu meinem Ansatz in meiner ersten Antwort hinzu:

• Toleranz muss mehr als eine moralische Pflicht sein
• Toleranz braucht eine aufrichtige Motivation, Fähigkeiten zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen
• Toleranz braucht Schulung unserer Tugenden, die unserem Denken und Handeln zu Grunde liegen
• Toleranz braucht eine Instanz, die unsere Tugenden schult

Hier liegt auch die Antwort auf deine Frage Hermann, ob es erlernbar oder lehrbar ist – ja es ist – doch es gibt hier zu Lande offensichtlich keine Instanz mehr dafür, die das leisten könnte.

Unsere Prioritäten haben sich verschoben – Wissen und Fähigkeiten sind heute das größte Gut. Tugenden sind ein alter Zopf mit denen es nichts zu gewinnen gibt.

Wir sollten Ausschau halten nach einer Instanz, die neben Wissen und Fähigkeiten die Vermittlung "alter Zöpfe" wieder im Stande wäre zu leisten.


Auf der Suche nach weiteren Hinweisen zum Thema "Toleranz" bin ich auf den Artikel "Rationalität und Toleranz" von Hans Heinz Holz gestoßen.

Hans Heinz Holz, geboren 1927 in Frankfurt/M, marxistischer Philosoph, Promotion bei Ernst Bloch – Quelle Wikipedia

Ich werde eine kleine, nicht vollständige Zusammenfassung seines Artikels geben mit Hinweisen die ich dort fand und die die Aspekte von Toleranz berühren, die für unsere Fragen wichtig sind.

Was mir zugegebener Maßen nicht so ganz leicht fällt, da ich auf diesem Gebiet eine "Unwissende" bin. Doch es geht hier ja nicht um erkenntnistheoretische Erörterungen sondern um deren praktischen Bezug zu unserem Leben und zu unseren hier diskutierten Fragen und darauf werde ich mich auch beschränken.

Hans Heinz Holz sagt unter anderem:

Jeder Mensch sieht die Welt von seinem einzigartigen individuellen Standpunkt aus und agiert/reagiert auf dieser Grundlage. Jeder hat seine individuelle Sicht der Welt und diese ist nicht völlig gleich mit der Sichtweise des anderen und dadurch unterscheidet sich jeder Mensch vom anderen. Alle agieren/reagieren auf ein und die selbe Welt – dass ist seiner Aussage nach die Bedingung von Wahrheit und der Grund warum es nur eine Wahrheit gibt, da es nur eine Welt gibt. Aber jeder sieht sie aus einer anderen Perspektive, und damit sieht jeder nur einen Teilaspekt der Wahrheit und agiert/reagiert darauf.

Hier nun kommt Toleranz ins Spiel - Toleranz ist also die Fähigkeit, die andere Sichtweise zu erkennen, zu bejahen und ihr eine Berechtigung zu geben. Toleranz ist die Fähigkeit, meine Einstellung zu behalten und doch die andere Einstellung, oder viele Einstellungen ebenso gelten zu lassen.

Was auf dein Anliegen Hermann, angewandt ja bedeutet - ich bin heterosexuell und bleibe es auch, und doch kann ich erkennen und bejahen dass es homosexuelle Menschen gibt und ihnen eine gleiche Berechtigung geben. Ich kleide mich für die Allgemeinheit "normal" und kann trotzdem erkennen und bejahen, dass es Menschen gibt die sich exotisch kleiden und ihnen eine gleiche Berechtigung geben.

Holz meint auch, dass was wir wissen und behaupten können ist nur immer eine relative Wahrheit, da unser Denken und Erkennen endlich ist – in einer unendlichen Welt.

Deshalb kann Toleranz, wie du Hermann ja bereits in einem anderen Beitrag ausgeführt hast, nie eine Endgültige sein, sonder immer nur eine Wandelbare.

Außerdem meint Holz, da der Mensch ein Vernunftwesen ist besitzt er die Urteilskraft einzuschätzen was nützlich oder schädlich ist und kann dieser Einsicht folgen ohne sich durch Angst, Verführung oder niederen Trieben übermannen zu lassen.

Das wiederum angewandt auf deine Ausführungen bedeutet doch, dass ich in der Lage sein muss zu beurteilen ob es nützlich oder schädlich ist wie sich jemand kleidet oder welche sexuelle Ausrichtung er hat – und dann kann ich doch nur erkennen und bejahen dass es niemandem schadet wie ein Mensch seine Sexualität lebt (in Bezug auf Erwachse!), wie ein Mensch sich kleidet, was ein Mensch isst, welcher Religion ein Mensch angehört etc.

Genauso kann ich dann doch auch beurteilen dass es schädlich ist einen Menschen wegen seiner Kleidung, seiner sexuellen Ausrichtung, wegen seines Glaubens, etc. zu übervorteilen, zu diskriminieren, zu verletzten oder gar zu töten.

So weit eine kleine nicht vollständige Zusammenfassung aus „Rationalität und Toleranz“ von Hans Heinz Holz und ein paar kleine Ergänzungen von mir.

Bleibt die Frage, warum es trotzdem Menschen gibt, die diese Urteilskraft vermeintlich nicht besitzen, oder ihr nicht folgen können.

Ich denke hier bin ich wieder am Anfang meiner Antwort und beim Auszug der Rede des Dalai Lama: Der Verfall der "Tugenden", wie er es nennt, in unserer Gesellschaft.

Die starke Ausrichtung auf Wissen und Fähigkeiten, die Ausrichtung auf äußere Werte und der zunehmende Verlust von Liebe und Mitgefühl.

Und ich bin wieder bei meiner ersten Antwort – die Angst nicht geliebt zu sein.

Hier meine ich nicht Hermann, nicht "beliebt" sein sondern ich meine nicht "geliebt" sein! Das ist für mich ein gewaltiger Unterschied!

In diesem Zusammenhang fiel mir auch auf, dass es für viele Menschen offensichtlich von großer Bedeutung ist "Recht haben zu müssen". Ich habe darüber nachgedacht, welche Gründe es dafür geben mag, dass es so vermeintlich wichtig, ja für manch einen existentiell ist "Recht zu haben".

Durch die Diskussion über diesen Zusammenhang mit einem geliebten Menschen ist mir klar geworden, dass jeder Mensch, wenn er seinen Standort wechseln kann, wenn er abstrahieren kann, wenn er sich hinterfragen kann, wenn er in der Lage ist sich selbst in Frage zu stellen, dass er dann einer ist, der sich in dieser Welt sicher fühlt, sich angenommen und geliebt fühlt. Dann und nur dann kann er auf "Recht haben" verzichten.

Das habe ich in meiner ersten Antwort gemeint als ich schrieb:

Das tiefste Bedürfnis eines jeden Menschen ist es geliebt zu werden!

Doch dessen muss ich mir erst mal bewusst sein, um dieses Bedürfnis opfern zu können - denn dass muss ich, wenn ich wirklich tolerant sein will.


Und das kann ich nur "opfern" wenn ich mich sicher und angenommen fühle – geliebt fühle – und hier nicht im Sinne von "geliebt werden von jemandem" sondern "geliebt sein" in der Welt!

Dieses "Recht haben" bieten allen anderen Menschen nämlich die einzige Sicherheit, das einzige "Gerüst" an dem sie sich festhalten können und das macht sie gänzlich starr und unbeweglich. Denn dieses "Gerüst" loslassen würde für sie ja bedeuten ohne "Halt" zu sein, ins "Bodenlose" zu fallen – das macht Todesangst.

Darum Hermann sind manche Menschen so "unbelehrbar".

Ausführung im ersten Beitrag von dir:

"Der Intolerante behauptet etwas. Gründe für seine Behauptung nennt er in aller Regel nicht; und nennt er welche, sind sie meist leicht zu entkräften, und dann sagt der Intolerante (habe dies oft erlebt): "Ja, ja, aber trotzdem...", weil in diesem betreffenden Menschen eine Sperre nicht aufgeht. Kann ihm einer sagen, was er will; kann er hören, was auch immer... ihm geht kein Licht auf."

Die von dir so genannte "Sperre" ist genau das – ihr Gerüst, an das sie sich klammern – ohne dieses Gerüst sie ins Bodenlose fielen.

Um mit den Worten des Dalai Lama zu sprechen, können wir mit diesen Menschen nur tiefes Mitgefühl empfinden, denn sie leben bewusst oder unbewusst in ständiger Angst, dass einer wie du Hermann, oder wie David, oder wie ich, oder andere daher kommen und ihnen den Todesstoß versetzen - indem wir sie ins Bodenlose stürzen lassen.

Daher Hermann, die Gegenwehr, die Unbelehrbarkeit, die Besserwisserei, das Recht haben wollen, der Hass, die Gewalt...

Und nun nochmals zu deinen Fragen Hermann:

Toleranz erlernbar, lehrbar?

Oder anders gefragt:

Gibt es, um eine Formulierung meines Freundes David Warschauer aufzugreifen, tatsächlich >Grenzen der Aufklärung<?

Und wenn ja, wie geht man damit um?


Toleranz ist lehrbar – nur die Frage ist, wer wäre im Stande es zu lehren.

Toleranz ist erlernbar – nur die Frage ist bis zu welchem Alter wäre es denn erlernbar. Oder anders gefragt – gibt es eine altersmäßige Begrenzung, weil ab einem gewissen Alter bereits eine so starke "Erstarrung" entstanden ist, die sich nicht mehr aufzulösen ließe (Tante Ortrud) ?

Grenzen der Aufklärung gibt es nicht, denn Aufklärung ist ein fortschreitender Prozess.

Holz sagt, dass unser Denken und Erkennen endlich ist – in einer unendlichen Welt. Doch das widerspricht nicht meiner Aussage, sondern bedeutet ja nur dass der Prozess der Aufklärung nie enden kann – da die Welt unendlich ist.

Bleibt deine letzte Frage Hermann:

Wie geht man damit um?

Darauf Hermann kann ich im Moment wieder nur mit den Worten des Dalai Lama antworten:

Mit Geduld, Mitgefühl und Liebe –

Denn wenn mann/frau ... erkennt, dass der andere genau wie ich selbst Glück erlangen und Leid vermeiden möchte, und wenn man einsieht, dass er genauso wie ich selbst das Recht hat, dieses Glück zu erstreben und Leid von sich zu weisen, dann entsteht echte, tiefe Achtung vor dem anderen. Auf diesem Fundament können Geduld und Toleranz entstehen...

Bin mir durchaus bewusst dass sich das nicht besonders leicht anhört. Ich will mir dazu auch gerne weitere Gedanken machen und sehen ob es mir gelingt, wenigstens ansatzweise praktische, anwendbare Verhaltensweisen zu finden.

Doch dafür Hermann musst du mir Zeit einräumen, dass schüttle ich nicht mal eben so aus dem Ärmel...

Antworten

Bettina

64, Weiblich

Beiträge: 23

Re: Das Bereitsein zur Toleranz - erlernbar? lehrbar?

von Bettina am 14.07.2009 10:50

Liebe Sigrid!
Viele Denkanstöße hast Du in Deinem Beitrag geliefert, einfach toll. Ein paar davon möchte ich gern aufgreifen und meine Gedanken dazu äußern.
Da ist als erstes Dein Zitat des Dalai Lama, seine Äußerungen über Mitgefühl und Zuneigung als die inneren Eigenschaften des Menschen, die Toleranz in die Welt zu bringen in der Lage sind. Ja, die Fähigkeit zu Mitgefühl und Zuneigung gegenüber anderen Menschen, das dürfte der Schlüssel sein zur Toleranz. Ebenso einleuchtend finde ich, dass es nicht ausreichen kann, Toleranz als moralische Pflicht verstanden zu wissen, dass wir mit einer solchen Haltung jedenfalls schnell an Grenzen stoßen. Allein vom Verstand her ist Toleranz wohl nicht erzwingbar. Was aber nicht bedeutet, dass wir unseren Verstand nicht immer einsetzen müssen! Denken hilft sehr wohl, ist aber eben nicht alles.
Also: Liebe und Mitgefühl auf der einen Seite, die Erlangung von Wissen und vielfältigen Fähigkeiten auf der anderen Seite - eine Balance zwischen diesen beiden Seiten wäre ideal.
Aber da beginnt auch schon meine Ratlosigkeit, fangen die Schwierigkeiten an. Liebe und Mitgefühl, wird uns das in die Wiege gelegt? Da ist es wohl vergleichsweise leichter, Wissen und Fähigkeiten zu erlangen.
Eine moralische Instanz, die uns Zuneigung und Mitgefühl lehrt, kann es die überhaupt geben? War es die Religion jemals wirklich? Konnte / kann diese nicht bestenfalls soetwas wie moralische Pflichten lehren? Aber daraus (siehe Dein Zitat des Dalai Lama) kann sich eben kaum dauerhafte, stabile Toleranz anderen Wesen gegenüber entwickeln.
Aber auch wenn ich den Weg nicht weiß, der uns Menschen zur Erlangung von Mitgefühl und Zuneigung bringen kann, diese Eigenschaften (gepaart mit Wissen, mit Wachheit und Neugier) halte ich für ideale und erstrebenswerte Voraussetzungen für Toleranz.
Die Frage Wem schadet das?, die Du anhand von Beispielen in Deinem Beitrag so schön erörtert hast, liebe Siegrid, die halte auch ich für sehr nützlich. Im Alltag kann es sehr hilfreich sein, bei der Beurteilung einer konkreten Sache, sich ersteinmal diese Frage zu stellen. Sie ist einfach, jeder Mensch dürfte in der Lage sein, sie sich zu beantworten, bevor er ein Urteil über etwas abgibt. Und es ist ein Beispiel dafür, dass es möglich ist, jedenfalls ein Stückchen weit Toleranz zu trainieren.
Noch zu einem Punkt möchte ich etwas anmerken, liebe Sigrid. Vielleicht habe ich Dich ja auch nicht richtig verstanden. Aber falls doch, kann ich nur Protest einlegen: Das Bedürfnis, geliebt zu werden, kann ich niemals opfern. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, das ich nicht opfern darf, denn das wäre unmenschlich mir selbst gegenüber. Und ohne Liebe (auch zu mir selbst!) kann ich auch keine Fähigkeit zu Mitgefühl und Zuneigung anderen gegenüber haben.
Ganz anders sieht es aus mit dem Bedürfnis, beliebt zu sein. Das muss ich unbedingt hinterfragen - und opfern. Denn beliebt sein zu wollen bei allen Menschen, mit denen ich irgendwo zu tun habe, richtet sehr schnell Schaden an. Ich würde dann leicht dahin kommen, es immer gerade den Menschen recht zu machen, die in meiner Nähe sind und zwangsläufig gleichzeitig andere Menschen verraten. Dessen muss ich mir bewusst sein und handeln, also mich wo nötig unbeliebt machen.
Aber zurück zur Toleranz-Frage. Ich bin sehr skeptisch, wieweit Toleranz für jeden Menschen erlernbar ist, glaube auch nicht, dass es möglich ist, dies über eine, wie auch immer geartete, moralische Instanz zu steuern. Aber mich selbst immer wieder in Frage stellen, mir Offenheit und Neugier erhalten, das kann ich zumindest trainieren, im Bewusstsein meiner eigenen Unzulänglichkeit mich immer wieder darum bemühen.

Antworten Zuletzt bearbeitet am 14.07.2009 10:54.

SigridEbert

71, Weiblich

Beiträge: 24

Re: Das Bereitsein zur Toleranz - erlernbar? lehrbar?

von SigridEbert am 17.07.2009 21:30

Liebe Bettina,

ich bin ganz deiner Meinung – Mitgefühl und Liebe sind der Schlüssel zur Toleranz und auch, dass Toleranz keine moralische Pflicht sein kann, weil dass niemals ausreichen würde.

Ebenso stimme ich dir zu, dass Toleranz nicht über den Verstand erzwingbar ist und es ist auch eindeutig richtig, dass Denken hilfreich ist – immer!

Doch Mitgefühl und Liebe entsteht nicht über den Verstand sonder immer und nur über das Gefühl – wie es ja bereits im Wort "Mit-Gefühl" zum Ausdruck kommt. Es geht darum etwas "mit zu fühlen" – ich also in der Lage bin, dass zu "fühlen" was der andere fühlt.

Dann allerdings kommt das Denken - das sorgt für eine neue Ausrichtung meines Verhaltens auf Grund meines "Mitfühlens".


Du fragst: "Liebe und Mitgefühl, wird und das in die Wiege gelegt?"

Ja und nein, Bettina, kommt darauf an was du mit "in die Wiege gelegt" meinst.

Es gibt zumindest wissenschaftliche Belege, die zeigen, dass Menschen, die in einer liebevollen Umgebung aufwuchsen eindeutig weniger Probleme damit haben. Auch gibt es genetische Dispositionen, Erkrankungen, die die Wahrnehmungsfähigkeit und das Fühlen beeinträchtigen können.

Ich beschränke mich hier auf eine kurze Erklärung was ich mit "liebevoller Umgebung" meine.

Es geht um das "Gefühl" sich sicher, angenommen und geliebt zu fühlen in dieser Welt. Und das gelingt Menschen die dass schon als Säugling und Kleinkind erfuhren eindeutig besser.

Das ist ein Gefühl, dass sich durch liebevolle Zuwendung, durch viel Körperkontakt und eine Haltung der Eltern von "du bist ok" dem Kleinkind gegenüber äußert und zwar in einer Phase des Kindes bevor sich sein "Ich" manifestiert hat. Das ist der Nährboden auf dem das Kind ein Gefühl dafür entwickelt, angenommen, sicher und geliebt zu sein – in der Welt.

Diese Menschen tun sich in der Regel nicht so schwer damit Mitgefühl und Liebe, und in deren Folge Toleranz, zu entwickeln und dauerhaft zu kultivieren.

Wenn wir bedenken wie unser Erziehungssystem in den letzten 100 Jahren aussah, wird uns sehr schnell klar, dass es davon nicht so viele Menschen geben kann. Erziehung hatte und hat bei uns in Deutschland viel mit Fehlern, Schuld, mit "nicht in Ordnung zu sein" und Strafen zu tun. Das ist der Nährboden auf dem Intoleranz entsteht.




Dazu ein Beispiel aus dem Schulalltag Deutschland/Finnland:

Für entspannte Prüfungen finden wir in Deutschland leider noch wenige Beispiele.

Da blicken wir lieber nach Finnland.

Dort werden zum Beispiel jedes Jahr einige hundert Schulen ausgelost, um vom zentralen Unterrichtsinstitut geprüft zu werden. Schulen, die nicht ausgelost werden, die aber über sich Auskunft wünschen, können mitmachen, wenn sie sich an den Kosten mit 1000 Euro beteiligen. Die meisten Schulen machen inzwischen mit.

Dass sie dafür zahlen, können viele Deutsche erst einmal nicht glauben. Plausibler fänden sie es, wenn Schulen dafür Schmerzensgeld bekämen. Das passt besser zu einem Bild von Prüfungen als Fehlerinquisition.

In deutscher Tradition umgibt Prüfungen eine Aura von Aburteilen und Entwerten. Im gegliederten Schulsystem gerät die Leistungsbeurteilung leicht zur Suche nach den blinden Passagieren, die schleunigst von Bord sollen.

In einem vertrauensvollen Klima hingegen entfalten Prüfungen eine ganz andere Wirkung. Sie werden als Rückmeldung angesehen, die Schülern und Lehrern Auskunft über sich gibt. Die Diagnose ist dann nur der erste Schritt.
Weitere Auskünfte klären, was getan werden kann. Übrigens ist dann die Identifikation und Förderung von Stärken ebenso wichtig, wie die Arbeit an Schwächen.

Das in Deutschland bei Prüfungen selten an die Talente gedacht wird, ist aufschlussreich. Nach einer guten Note fühlt man sich gut oder ist noch mal davon gekommen. Mehr wollen Schüler dann häufig gar nicht wissen.

Warum halten in Deutschland so viele Menschen entspannte Prüfungen mit hohem Erkenntniswert nicht für möglich?
Warum glauben so viele, ohne Peitsche würde die Motivation erschlaffen?

Eine fatale Mentalität.

Sie setzt mehr auf Außenregulierung und Disziplin, als auf Selbstregulierung.

Eine schlechte Prüfungskultur verdirbt den Kindern den Geschmack an diesem großen Projekt des eigenen Lebens, am Lernen.

„Die Zeit“ Reinhard Kahl 2007, Zusammenfassung Sigrid Ebert


Ich denke Bettina, das erklärt Einiges, und ist nur ein Beispiel aus unserem Erziehungssystem, das deutlich macht, was ich mit meinen obigen Ausführungen meine.

Was uns im Wege steht ist unsere fatale Mentalität von Entwerten, Aburteilen und falsch verstandener Disziplin!

Doch jeder Mensch kann zunächst seine eigenen Gefühle wie Unsicherheit, Angst, Hass etc. wahrnehmen und dann durch "Denken" hinterfragen, da der Mensch ja ein Vernunftwesen ist, wie Holz ausführt, und so zu neuen Einsichten gelangen. Das kann dann seine Haltung ändern. Und wenn er dann noch die Fähigkeit des "Mit-fühlens" entwickelt, dann ist es nicht mehr weit bis zur Toleranz.


" Eine moralische Instanz, die uns Zuneigung und Mitgefühl lehrt, kann es die überhaupt geben?"


Nein Bettina, keine moralische Instanz! Denn dass würde ja bedeuten, es ginge um Sitte und Gebräuche, um allgemeine Konventionen. Doch bei Toleranz geht es gerade darum nicht, sondern um Haltungen, Sichtweisen und Lebenskonzepte die ja gerade diesen Konventionen widersprechen.

Es geht um eine Instanz, die in der Lage wäre, zu lehren wie der Mensch zu diesen abweichenden Haltungen, Sichtweisen und Lebenskonzepten eine tolerante Einstellung erlangen kann – eine Instanz der es nicht um Konventionen/Moral geht – eine Instanz der es um Selbsterkenntnis geht.


"War es die Religion jemals wirklich?"

"Konnte / kann diese nicht bestenfalls so etwas wie moralische Pflichten lehren?"


Das ist eine wichtige Frage Bettina. Hier möchte ich zunächst unterscheiden zwischen "Religion" und "Institution Kirche", weil für mich, und hier spreche ich nur für mich, "Religion" und "Kirche" nichts miteinander zu tun haben; Religion ist kein Synonym für Kirche oder umgekehrt! Doch ich betone ausdrücklich, dass dies meine ganz persönliche Meinung ist.

Aus dieser meiner Sicht bin ich anderer Meinung – Religion ist durchaus in der Lage diese Instanz zu sein – und ich spreche hier auch nicht von einer Konfession, ich spreche von Religion als konfessionsübergreifendes Phänomen, dass schon immer alle Kulturen begleitete.

Bei "Religion" in meinem Sinne geht es um mehr als bloß um moralische Pflichten - es geht um tief greifende Erkenntnisse des Selbst. Und bei Toleranz geht es um Erkenntnis des Selbst – dass meine Sichtweise eine Subjektive ist und nur ein Teilaspekt der Wahrheit dieser Welt, und dass das für jeden Menschen so ist. Somit bin auch ich auf Toleranz durch andere angewiesen, darauf, dass mir niemand Schaden zufügt.


Diese Erkenntnis gibt es in allen Religionen –

Was du selbst nicht wünschest, das tue nicht den Menschen an. − Analekten des Konfuzius XII, 2, XV, 23 Konfuzianismus (Philosophie und Religion)

Dies ist die Summe aller Pflicht: Tue anderen nichts, das dir Schmerz verursachte, würde es dir getan. - Mahabharata 5, 1517, Hinduismus und Brahmanismus

Jedem ist sein Selbst am liebsten, deshalb verletze niemand anderen aus Liebe zum deinem Selbst. − frei nach Udana-Varga 5,1 Buddhismus

Alles nun, was ihr wollt, dass die Menschen euch tun, das tut ihnen ebenso. − Bibel, Matthäus 7, 12; Lukas 6, 31, Christentum

Was dir selbst verhasst ist, das tue nicht deinem Nächsten an. Dies ist das Gesetz, alles andere ist Kommentar. − Talmud, Shabbat 31a, Judentum

Der vorzügliche Glaube ist, das, was du für dich wünschst, auch den anderen zu wünschen und das, was du dir nicht wünschst, den anderen auch nicht zu wünschen. − Hadithsammlung des Ahmad Ibni Hanbal, Islam

Quelle Wikipedia



Nun zu: "Vielleicht habe ich Dich ja auch nicht richtig verstanden."

"Aber falls doch, kann ich nur Protest einlegen: Das Bedürfnis, geliebt zu werden, kann ich niemals opfern. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, das ich nicht opfern darf, denn das wäre unmenschlich mir selbst gegenüber. Und ohne Liebe (auch zu mir selbst!) kann ich auch keine Fähigkeit zu Mitgefühl und Zuneigung anderen gegenüber haben."



Dass liebe Bettina ist ein Missverständnis. Natürlich hast du Recht - ohne Liebe mir selbst gegenüber kann ich die Fähigkeit für Mitgefühl und Zuneigung nicht entwickeln.

Was ich meinte ist das Bedürfnis des "Ich/Ego" dass muss ich "überschreiten", denn "angenommen sein" in der Welt ist ein Seinszustand und vom "Ich/Ego" unabhängig.

Ich verwende hier absichtlich statt "opfern" "überschreiten" weil "opfern" zu negativ belegt ist in unserem Sprachgebrauch und allein deshalb ein falscher Eindruck entsteht. Denn dass was ich meine ist nicht negativ (vom Ursprung her bedeutet opfern – etwas "darbringen" – ist also positiv!) es ist ein Akt der Selbstüberwindung – die Überwindung der Bedürfnisse des "Ich/Ego".

Damit meine ich aber nicht jetzt "bedürfnislos" zu sein, sondern ich bin unabhängig vom "Ich/Ego", bin frei zu entscheiden. Nichts "zwingt" mich mehr.

Auch die Formulierung "geliebt sein" in der Welt, ist missverständlich, da das Wort "Liebe" in unserem Sprachgebrauch sehr abgegriffen ist und in einem Kontext steht, den ich nicht meine.

Besser ist hier die Formulierung "sich angenommen fühlen" in der Welt – das bedeutet: ich fühle mich sicher, ich fühle mich aufgehoben, ich bin am rechten Platz, ich bin in Ordnung.

Das Bedürfnis des "Ich/Ego, geliebt zu werden" und der Seinszustand "in der Welt angenommen sein" sind völlig verschieden.



Hier mache ich jetzt eine Pause liebe Bettina, denn den Begriff "Seinszustand" den muss ich noch näher erklären und dass wird viel zu Schreiben sein. Außerdem muss ich mir noch klar darüber werden, wie ich es am besten erkläre – ist nämlich gar nicht so einfach...

Antworten

Bettina

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Re: Das Bereitsein zur Toleranz - erlernbar? lehrbar?

von Bettina am 19.07.2009 23:14

Liebe Sigrid,

ich möchte gern noch einmal an Deine Ausführungen zu Mitgefühl und Zuneigung anknüpfen, weil ich mit Dir darin übereinstimme, dass hier ein wesentliches Potential der Fähigkeit zur Toleranz liegt.
Zufällig fiel mir in den letzten Tagen ein Buch in die Hände, das sehr gut zu unserer Auseinandersetzung mit der Toleranzfähigkeit passt und in dem ich mit Interesse und Gewinn gelesen habe. Es heißt "Achtung! Vorurteile" und ist von Sir Peter Ustinov. Anhand von zahlreichen Episoden, zumeist persönlichen Erfahrungen, kreist Ustinov in seinem Buch um das Thema Vorurteile in den unterschiedlichsten Formen. Und genau da, wo es uns möglich ist, Vorurteilen auf die Spur zu kommen und solche abzubauen, genau da gelangen wir ja zu mehr Toleranz. Immer wieder wird in dem Buch deutlich, dass es unumgänglich ist, stets aufs neue nachzudenken, sich auseinanderzusetzen mit den jeweiligen Gegebenheiten, sich selbst immer wieder zu hinterfragen, auch neugierig zu bleiben.
Und was das alles betrifft, glaube ich, es kann nur dann funktionieren, wenn ich selbst die Bereitschaft dazu aufbringe. Lehrbar? Erlernbar? Da bleibe ich ratlos.
Aber um wieder zu Mitgefühl und Zuneigung zu kommen, Ustinov nennt diese Fähigkeit der Einfühlung, des Mitfühlens an einer Stelle "den Respekt vor dem mir Fremden" und meint damit wirklich mehr als das rational Erfassbare. Nach seiner Auffassung entsteht dadurch sogar mehr als "nur" Toleranz.

Eine mich sehr berührende Passage aus dem Buch möchte ich hier zitieren:

"Toleranz oder
Der andere, das könntest du sein

Meine Lebenserfahrung sagt mir, dass der Hass auf andere Menschen Selbsthass ist, getarnter Selbsthass. Wer andere verachtet, kann sich selbst nicht mögen. Gegen die Verachtung wurde uns die Toleranz gepredigt, und in vielen Jahrhunderten, in denen sie alles andere als selbstverständlich war, hätte sie das Leben zwischen fremden Kulturen erträglicher gemacht. Doch ist sie wirklich die Lösung der weltweiten Probleme, die Toleranz? Obwohl ich pragmatisch bleiben will: Ich glaube, sie reicht nicht ganz. Denn Toleranz heißt: Duldung. Die Toleranz , so human sie ist, fordert uns auf, den anderen zu dulden. Mir ist das etwas zu wenig. Ich gehe mit Zeitgenossen wie dem wunderbaren Journalisten Georg Stefan Troller. Er wurde gefragt, warum er so viele Filme über Behinderte gedreht habe und über Strafgefangene. Er gab zur Antwort: "Weil wir alle irgendwie behindert sind. Durch den Krieg, durch die Eltern, durch enttäuschte Liebe." Und über die Gefangenen: "Es kommt darauf an, dass die Zuschauer sogar bei einem ihm fremden, anfangs ganz unsympathischen Menschen sagen: Das bin ja ich." Nicht also nur auf die Toleranz des mir Fremden, auf den Respekt vor ihm kommt es mir an. Denn der oder die andere, der oder die mir da auf der Straße im Rollstuhl oder in einem fernen Land begegnet: Der oder die andere könnte ich selber sein. Nur ein Zufall, nichts als ein Zufall hat es anders gewollt."
Sir Peter Ustinov, Achtung! Vorurteile
Rowohlt Taschenbuch 2009

Antworten Zuletzt bearbeitet am 20.07.2009 22:02.

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